Der Baum an der Grundstücksgrenze spaltete schon immer die Gemüter. Der Nachbar, auf dessen Grundstück der Baum steht, wollte ihn schon seit Jahren einkürzen. Angst vor Sturmschäden war sein Argument. Angesichts der dünnen Äste im Kronenbereich und des Fallradius, den der Baum in seinen vollen Ausmaßen gehabt hätte, eine These, die ich seit je her anzweifelte. Meine Vermutung ging eher in die Richtung, dass der Baum zu viel Schmutz verursachte. Fakt ist, dass Prunus padus von Natur aus verdammt viele, kleine Blätter hat, die sich gegen Herbst logischerweise über die umliegenden Grundstücke ergießen. So what, that’s nature! Wer mit fallendem Laub ein Problem hat, sollte sich überlegen, ob ein Garten das richtige ist.
Ich für meinen Teil sah in diesem Baum immer den Sichtschutz, der die Giebelseite unseres Hauses vor neugierigen Blicken seitens der Straße schützte (in dieser Siedlung muss man sich scheinbar dafür entschuldigen, wenn man nicht gern auf dem Präsentierteller sitzt und die Privatsphäre, die hohe Pflanzen verleihen, den Blicken der Nachbarschaft vorzieht). Insbesondere während der letzten beiden Jahre, in denen der Baum die 10m Marke knackte, ein sehr willkommener Sichtschutz, der sogar die Fenster im Dachgeschoss adäquat vor neugierigen Blicken bewahrte. Neben dieser Eigenschaft, war dieser Baum im Hochsommer der ideale Sonnenschutz.
Nicht zuletzt aber war die Traubenkirsche (die von allen nur herablassend als „namenloses Unkraut“ bezeichnet wurde) für mich der ideale Standort für meinen Hängesessel – einem Einod der Entspannung, das im Sommer dazu einlud bei seichten Schaukelbewegungen mit einem Buch in der Hand nahezu schwerelos zu verweilen. Seit der Installation dieses Teils gewann der Garten einen völlig neuen Nutzungscharakter. Plötzlich war echte Entspannung möglich, von der man in Liegen und sonstigen Gartenmöbelstücken nur träumen konnte.
Doch genug der Träumerei.
Das Einkürzen war schon lang angekündigt. Spätestens seit dem letzten Herbst, konkretisierte sich der Gedanke, den Baum um 4m zu kürzen. Bei knapp 10m Höhe und professioneller Ausführung sicherlich eine absolut vertretbare Entscheidung. Aber leider legte ich die Messlatte bei der „professionellen Ausführung“ um ein vielfaches zu hoch an.
Eh ich bemerkte, dass es heute so weit war, war es auch schon zu spät, um überhaupt noch etwas zum Erhalt des Baumes beizutragen. Mittlerweile wurde aus dem Rückschnitt um 4m ein Rückschnitt auf 4m – was schlussendlich dazu führte, dass aus dem prächtigen mehrstämmigen Baum nur noch ein krummer Stamm ohne jegliche Verzweigung übrig blieb.
Über den damit verlorenen Sichtschutz und die Möglichkeit, den Hängesessel zu nutzen, will ich mich gar nicht beklagen. Schließlich kann jeder auf seinem Grundstück machen, wonach die Laune steht. Und wenn der Nachbar seinen Baum einkürzen will: nur zu. Doch, dass die Ausführung entgegen jeder Ankündigung in ein solch dilletantisches Desaster endete, ist einfach nur schade.
Schade um einen schönen Baum, der durch ordnungsgemäßen Rückschnitt, weiterhin eine ordentliche Geometrie hätte behalten können. Doch was nun bleibt, ist ein trauriger Stamm mit zersplitterten Schnittkanten und blutenden Wunden. Konzeptlos zerhackt, Habitus und Geometrie zerstört.
Und die Moral von der Geschicht‘: die Kettensäge in der Hand verleiht die Fähigkeit des Baumschnitts noch lange nicht.
Doch entgegen der negativen Stimmung die dieses Ereignis in mir auslöste, gibt es doch zwei Dinge, die ohne diesen Radikalschnitt nicht geschehen wären: Einerseits habe ich nun ausreichend Holz vor der Hütte (höhö!), um meine neue Spaltaxt ausgiebig zu testen und anderseits bemerkte ich eine recht seltene Besonderheit an dieser Pflanze.
Prunus padus war ein Cristat
Von der Sentimentalität, die mir die schönen Erinnerungen an diesen Prunus padus bescherten, getrieben, durchstöberte ich die gefällten Äste. Ziellos, ohne Sinn und Zweck. Doch war es vorherbestimmt, dass ich auf etwas besonderes stoßen würde?
Durch dieses Stöbern stieß ich auf eine genetische Mutation dieses Gehölzes, welche als Cristata bezeichnet wird. Der Begriff ist besonders in der Kakteenkultur ein Garant für seltene und oftmals kostbare Pflanzen. Statt eines Vegetationspunktes am Ende des Triebes, wie es bei „normalwüchsigen“ Pflanzen der Fall ist, beherbergt ein Cristat eine Vielzahl an Vegetationspunkten, wodurch fächerartige Verwachsungen entstehen. Außerhalb des Sukkulentenreiches ist mir eine solche Anomalie bislang nur sehr selten begegnet. Allerdings scheint es bei Gewissen Pflanzen doch recht verbreitet zu sein, wie ich eben erfuhr. So werden beispielsweise Cristatenzweige von Weiden häufig in der Floristik verwendet.
Die Formen, die durch den Cristatwuchs entstanden sind, wirken sonderbar und unnatürlich.
Hallo,
schade, dass dieser wunderbare Baum gefällt wurde. Gerade als Haltepunkt für den Hängesessel war er ja wohl ideal.
Sehr interessant finde ich auch den Wuchs und die Mutation. Das habe ich noch nie gesehen.
Grüße
Hannes
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